Bitten der Vögel im Winter

 

Seine Besuche bei ihr sind unregelmäßig. Er legt fest, wann und wo sie sich treffen. Sie wartet auf seinen Blick, sein Lächeln. Manchmal schwillt das Warten derart an, dass sie glaubt, es greifen zu können. Dieses Warten belagert die Wände, die möbel, flimmret im Flur, schlüpft von Raum zu Raum. Wenn er sich ankündigt, schrubbt sie den Boden, putzt die Fenster, richtet sich die Haare. Kommt er, fühlt sie sich glücklich, satt und aufgehoben. Kommt er nicht, ist alles leer. Ruhelos geht sie von Zimmer zu Zimmer, als suche sie etwas. Der Gedanke, dass er nicht mehr kommen könnte, reißt sie in Abgründe.

 

Der Roman „Bitten der Vögel im Winter“ erzählt ein tiefdunkles Kapitel der deutschen Geschichte, über das bis heute weitgehend geschwiegen wird. Es geht um die Verfolgung der Sinti und Roma und es geht um Eva Justin, eine der bekanntesten „Rassenforscherinnen“ zur Zeit des Nationalsozialismus.

 

 

Eva Justin ist mehr als eine Mitläuferin. Ute Bales schreibt aus der Perspektive einer Täterin, die weiß, was sie tut. Überzeugt von der Idee eines „sauberen Volkes“ reißt Justin Familien auseinander, horcht Kinder aus, lässt Leute verhaften, hilft bei Selektionen. Spiele, mit denen sie Sinti-Kinder in einem Kinderheim testet, entscheiden über Leben und Tod.

 

Justin steht in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem Vorgesetzten Dr. Robert Ritter, dessen Ansichten sie fraglos übernimmt, dessen Anweisungen sie vorbehaltlos ausführt. Der Roman schildert ihre Kindheit im Kaiserreich, die strenge Erziehung, den Drang, alles zu sortieren und zu ordnen, das Nicht-Hinsehen, das Ausbleiben jeglicher Selbstreflexion.

 

Eva Justin hat während der NS-Zeit maßgeblich dazu beigetragen, dass Tausende von Sinti und Roma gedemütigt, verstümmelt und ermordet wurden.

(Friedrich-Bödecker-Kreis)